Contra (Dauer)Lutscher: Eine sportliche Charakterfrage

Eines der am Heißesten diskutierten und kommentierten Phänomene der sich aktuell zum Ende hin neigenden Saison ist wohl das Thema Drafting. Und bei kaum einem anderen Thema sind die Fronten so verhärtet wie bei der Frage, was man gegen den gemeinen (Dauer)Lutscher denn unternehmen solle oder könne. Die Palette der Vorschläge reicht von einem Katalog an drakonischsten Strafen über den Wunsch, die Startfelder bei großen Events wieder zu reduzieren bis hin zur Forderung das Windschattenverbot endgültig ad acta zu legen. Aber ist das wirklich der Kern des Problems?

Ein wenig absurd ist es schon: wann immer der gemeine Triathlet das Thema Drafting diskutiert – sei es bei einem realen geselligen Beisammensein oder in einem der inzwischen doch recht zahlreichen virtuellen Austauschplattformen – so spricht er/sie sich immer fundamental und in aller Entschiedenheit gegen Drafting in jeglicher Form aus und fordert, natürlich im Interesse des Sports und der Fairness, dieses über diverseste Maßnahmen zu unterbinden. Denn Triathlon wäre ja nicht Triathlon, wenn es den Einzelkämpfercharakter verlieren würde.
Einem allgemein mathematisch und statistisch bewanderten Rezipienten solcher Diskurse sollte eigentlich klar sein, dass selbst wenn man eine Dunkelziffer von Pro-Lutschern von sagen wir mal 20% einrechnet, theoretisch überhaupt keine Drafting-Problematik existieren dürfte, da sich ein Großteil der Athleten ja dagegen positioniert… Alleine, die Realität zeigt (leider) ein anderes Bild.
Egal ob Ironman oder Challenge, WM, EM oder sonstige M, überall wo eine vierstellige Anzahl an Athleten ins Wasser hüpft, kann man auf der Radstrecke ein mehr oder weniger natürliche Klümpchenbildung beobachten und die ach so hoch gelobte Fairness wird aufgrund der “Äußeren Umstände” gerne schnell mal in die Werkzeugsatteltasche gepackt.

Nun sind die äußeren Umstände natürlich nicht zu unterschätzen. Bei den meisten Veranstaltungen, egal ob Kurz-, Mittel oder Langdistanz, werden Radkurse abgesteckt, die meistens die Hälfte oder gar nur ein viertel der zurückzulegenden Distanz entsprechen, also 2-4 Mal durchfahren werden müssen. Wenn wir nun das Startfeld eines Ironman (oder wahlweise einer Challenge) mit knapp 3000 Startern zugrunde legen und diese gleichmäßig auf einer für die Langdistanz typischen 90 km Runde verteilen, so findet man alle 30 Meter einen Athleten – und das logischerweise nur, wenn alle das gleiche Tempo fahren (würden). Jede Verschiebung oder Tempo-Änderung führt hier zwangsweise zur (Klein)Gruppenbildung und fast automatisch ins Drafting hinein.
Im Sinne eines fairen Sportes wäre es also ausschließlich eine begrenzte Anzahl an Teilnehmern gleichzeitig auf der Radrunde zu haben, was letztendlich nur durch Teilnehmerreduktion oder einem zeitlichen Auffächern des Starterfeldes allgemein möglich wäre. Im Umkehrschluss müsste es aber auch heißen, dass jeder Athlet, welcher sich für einen fairen Sport einsetzt, Konsequenzen zu ziehen und eigentlich gar nicht erst an den Start zu gehen hat, wenn eben ein faires Rennen nicht möglich ist.
Sind wir mal ehrlich: Das werden wir wohl in diesem Leben nicht mehr erleben.

In letzter Zeit immer wieder gerne gefordert: Die allgemeine Windschattenfreigabe, unabhängig von Distanz und Renncharakter. Was sich im ersten Moment nach einem sehr pragmatischen Ansatz anhört, hat bei genauerer Betrachtung aber das Potenzial, den Triathlonsport radikal zu verändern, weg von der Ausdauerleistung des einzelnen Athleten hin zu einem hoch strategischen und taktischen Teamsport.
“Warum dies?”, wird der eine oder andere fragen, aber eigentlich ist es offensichtlich. Mit der allgemeinen Windschattenfreigabe würde man Tür und Tor für komplette Support-Teams bei den Profis frei machen. Etliche  Athleten würden eigene Helfer mit an die Startlinie bringen, die nichts anderes zu tun hätten, als den Kapitän auf der Radstrecke zu ziehen. Das diese am Ende ein paar Minuten langsamer Schwimmen wäre auch nicht tragisch, als Team fährt man eine solche Lücke recht schnell zu, und das Laufen wäre für diese Helfer sowieso uninteressant, die Truppe könnte sogar vor dem Marathon (oder Halbmarathon) aussteigen.
Sicher, dieser organisatorische Aufwand mag – anfänglich – nur für sehr wenige Starter wirklich interessant erscheinen. Inzwischen gibt es aber da draußen genug Profis in der zweiten und dritten Reihe, die auf den ganz großen Events vermutlich nie ganz vorne mitspielen werden und für die der Einsatz als “Edelhelfer” (um mal einen Begriff aus dem Radsport zu bemühen) einen willkommenen Zuschuss zu dem ansonsten eher spärlichen Auskommen im Triathlon-Business darstellen dürfte.
Für viele mag diese Vision theoretischer Unfug sein, aber was würde denn in der Realität einem Elite-Kienle-Zug oder einem Frodeno-Express widersprechen? In jedem Sport, der auf professionellem Niveau betrieben wird, werden bestehende Möglichkeiten bis ins Maximum für ein best mögliches Ergebnis ausgelotet. Sponsoren und Hersteller investieren bereits erstaunlich hohe Summen in ihre Zugpferde. Bei der Professionalisierung, wie sie der Triathlonsport im Moment durchmacht, wäre ein Szenario wie oben beschrieben nicht mehr nur illusorisch.
Die allgemeine Windschattenfreigabe hätte also das Potenzial nicht nur den Sport auf, sondern vor Allem auch Abseits der Strecke zu verändern und einen völlig neuen Charakter zu verleihen.
Ich möchte stark bezweifeln, dass all dies, was Triathlon für uns so faszinierend macht, einem solchen Wandel standhalten könnte. Sei es, das Profis und Amateure an der gleichen Startlinie stehe, dass der Agegrouper immer noch eine (wenn auch sehr kleine) Chance hat, auch mal vorne mitzuspielen oder sei es der rein sportliche Aspekt, seine eigenen Grenzen ausgelotet zu haben – all dies würde verloren gehen.

Was also tun, um unserem heiß geliebten Sport ein wenig Charakter zu bewahren?
Wie geschrieben, werden wir eine Reduktion der Teilnehmerfelder bei großen Events nicht erleben und auch die so oft geforderten drakonischen Strafen scheitern wohl eher daran, dass die Durchsetzung der Regeln gerne mal aufgrund der wirtschaftlichen Interessen des Veranstalters ein wenig lascher gehandhabt werden.
Es bleibt also an uns als Sportler hängen – und das sollte es eigentlich auch. Wir machen den Sport zu dem, was er ist, denn ohne uns, gäbe es keine Kurz-, Mittel, Langistanzen. Wir sind diejenigen, die an der Startlinie stehen. Wir entscheiden durch unser Verhalten, wohin die Reise geht. Diese ganze Diskussion wird nur geführt, weil einige von uns sich entschieden haben, diese Regeln zu missachten oder für sich selbst als “nicht anwendbar” definiert haben.
Wenn ich mich entscheide, bei einer Großveranstaltung zu starten, dann kenne ich bereits im Vorfeld die Umstände, die auf mich zukommen. Ich weiß, ob es einen Rolling Start geben wird, wie lang die Radrunde ist und wie viele Teilnehmer in etwa auf dieser zu erwarten sind. Und genau hier habe ich die Möglichkeit, zu entscheiden: Kann ich mit den Gegebenheiten des Wettkampfes leben und mich an die Regularien halten? Wenn ich vorher schon weiß, dass ich einen Rolling Start blöd finde, 3000 Mitstarter auf der Radstrecke von mir ein anderes Verhalten verlangen als bei einem Wald- und Wiesen-Triathlon, das für mich inakzeptabel ist und ich mich dann trotzdem an die Startlinie stelle, dann kann man dazu nur sagen: Selbst dran blöd!

Wer etwas ändern möchte, der muss etwas ändern – hört sich komisch an, ist aber so. Alleine das Rumgejammer in Foren und Blogs hilft nichts, wenn es nicht mehr als nur Lippenbekenntnisse sein sollen. Die Anti-Drafting Kampagne des Ironman (“I AM TRUE”) hätte aktuell wohl eher den Satire-Preis 2016 verdient, die Bilder der letzten Monate sprechen Bände.
Es ist und bleibt unsere Entscheidung, wie, wo und vor allem ob diese Diskussion so weiter geführt werden muss.

Stay fair
Euer Tom

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